Kamtschatka
Expedition zum Ende des Doppelkontinents Eurasien

 

Kamtschatka ist eine riesige russische Halbinsel im äußersten Osten Asiens, unweit der Datumsgrenze gelegen. Sie ist 1.200 km lang und bis zu 450 km breit; sie trennt das Ochotskische Meer vom Beringmeer und dem Pazifischen Ozean. Die Halbinsel ist geprägt vom Vulkanismus. Es gibt über 160 Vulkane, unzählige Geysire, Fumarolen, Solfataren und heiße Quellen.

Selbst zu einer Zeit, in der man mit Sonderbewilligungen schon die 7.000er der Sowjetunion besteigen durfte, war Kamtschatka immer noch absolutes militärisches Sperrgebiet. Ein Russe, den ich 1974 anlässlich der Lenin-Besteigung kennen gelernt habe, hat mir damals zu Weihnachten ein Buch über die russischen Vulkane geschenkt. Lesen konnte ich es nicht, aber ich war begeistert von den Aufnahmen der wilden und unberührten Vulkane Kamtschatkas. Doch an eine Besteigung war nicht zu denken.

Im Jahr 1996 wurden dann plötzlich Expeditionen nach Kamtschatka angeboten. Sie wurden entweder gar nicht durchgeführt oder scheiterten vor Ort an organisatorischen Problemen. Dann wurde es wieder ruhig, doch mir ließ Kamtschatka keine Ruhe.

Als ich im Frühjahr 1998 zum Nordpol ging, lernte ich den Russen Victor Serov kennen. Wir unterhielten uns auch über Kamtschatka. Spontan erklärte Victor, er könne eine Expedition nach Kamtschatka organisieren. Das Ziel, den höchsten Berg der Halbinsel zu besteigen, sei realistisch. Tatsächlich erhielt ich ein Angebot.

Das Abenteuer konnte beginnen. Mein Freund, Martin Anwander, Ursula und ich fliegen am 25. August 1998 nach Moskau, wo wir Victor treffen. Am nächsten Tag steht der Weiterflug nach Petropavlovsk, der Hauptstadt Kamtschatkas an. Die riesige Ausdehnung Russlands wird uns jetzt so richtig bewusst. Die Flugzeit des vierstrahligen Jets beträgt ab Moskau noch neun Stunden. Die Entfernung entspricht der von Frankfurt nach Los Angeles. Doch eine angenehme Überraschung steht uns bevor. Da die Touristenklasse angeblich voll ist, reisen wir, wie die Reichen und Schönen dieser Welt, in der ersten Klasse. Viel Kaviar und Krimsekt verkürzt die Flugzeit, aber hundemüde sind wir dennoch. Bei unserer Ankunft wollen wir nur noch schlafen.

Am nächsten Tag steht uns eine lange Fahrt bevor. Mit einem russischen Van fahren wir von unserer Unterkunft in Paratunka, unweit von Petropavlovsk, auf meist ungeteerten Straßen mehr als 14 Stunden bis nach Klyuchi. Unterwegs überqueren wir mit einer Fähre den Kamtschatka-Fluß. In einiger Entfernung sehen wir erstmals in der Abendsonne die eisbedeckten Vulkane Kamtschatkas. Trotzdem ist unser Ziel noch fern. Endlich, kurz vor 23 Uhr, erreichen wir Klyuchi. Bei stockdunkler Nacht fahren wir in einen Schuppen. Von dort bringt man uns in ein Privathaus, in dem wir Quartier beziehen. Zum Abendessen bekommen wir, ebenso wie in der Folgezeit, köstlichen Räucherlachs und Lachskaviar bis zum Abwinken. Dies scheint hier die Basisnahrung zu sein.

Im Morgenlicht des neuen Tages sehen wir von unserem Fenster aus den Klyutschevskaya Sopka in seiner ganzen Pracht. Da Klyuchi nur wenig über Meereshöhe liegt, beträgt die Höhendifferenz zum Objekt unserer Begierde fast 5.000 m.

Ein geländegängiges russisches Militärfahrzeug holt uns ab. Jetzt wird unser vierköpfiges Team größer. Unser Hausherr, der auch Victor heißt, wird uns als Koch begleiten. Ein Vulkanologe soll uns den Weg zeigen und ein russischer Soldat in Zivil, bewaffnet mit einem Karabiner, hat die Aufgabe, uns bei Aufenthalten vor Bärenangriffen zu schützen.

In abenteuerlicher Fahrt geht es zunächst in einem ausgetrockneten Flussbett und dann auf einer unwegsamen Piste, die wohl nur von russischen Militärfahrzeugen bewältigt werden kann, aufwärts bis auf ca. 900 m. Dort ist bei einer verlassenen seismographischen Station die Höllenfahrt zu Ende. Mit schweren Rucksäcken geht es per pedes weiter. Nach fast 3 Stunden erreichen wir auf etwa 1.450 m eine kleine Hütte, die keinen besonders guten Eindruck macht. Anscheinend dient sie hin und wieder Jägern als Unterkunft. Das letzte Stück sind wir in dichtem Nebel und bei leichtem Regen aufgestiegen. Wir entschließen uns, in der Hütte zu bleiben. Die ganze Nacht regnet und stürmt es. Auch der folgende Tag bringt nur Regen, Sturm und auch relativ viel Schnee. Das Dach unserer Hütte ist undicht. Trotz bester Verpflegung (Räucherlachs und Kaviar) wird es zunehmend ungemütlicher. Wir sind froh, dass sich das Wetter bessert und wir nach dem Zwangsruhetag weitergehen können.

Nach einigen Stunden erreichen wir am frühen Nachmittag bei Sonnenschein eine weitere kleine Hütte auf ca. 2.500 m. Wegen des guten Wetters wollen wir bis zum sogenannten Basislager auf etwa 2.700 m weitergehen. Unser Vulkanologe meint, es wären etwa nochmals 3 bis 4 Stunden. Das erscheint uns wegen der geringen Höhendifferenz auch realistisch.

Doch es kommt ganz anders. Erst folgt ein steiler Aufstieg. Es liegt viel mehr Schnee als wir vermutet haben. Je weiter wir auf die Westseite des Berges kommen, um so tiefer wird unsere Spur. Dann folgt ein ständiges Auf und Ab. Wir müssen im knie- und manchmal hüfttiefen Schnee unablässig steile Lavarinnen queren. Wir kommen nur langsam voran. Als ich nach etwa 4 Stunden anfrage, wie weit es etwa noch sei, meint unser Vulkanologe, sicherlich nochmals 4 Stunden. Da es schon dämmert, glaube ich nicht mehr, dass wir unser Ziel erreichen. Es wird dunkel. Nur die Reflexion des Schnees hilft uns etwas. Wir haben Zweifel, ob unser Vulkanologe noch weiß, wo er ist. Gegen 22 Uhr beschließen wir schließlich nach mehr als 13-stündigem Marsch, in stockdunkler Nacht und eisiger Kälte im tiefen Schnee zu biwakieren. Trotz unserer Daunenschlafsäcke wird es empfindlich kalt. Als endlich der Morgen graut, sehen wir in einiger Entfernung am Ende eines Hangs einen dunklen Punkt. Angeblich das ersehnte Basislager. Nach einer guten Stunde erreichen wir es. Ein Holzgestell, das mit stabiler Zeltplane überspannt ist. Sogar eine Kochgelegenheit gibt es. Nun ist wieder alles im Lot.

Zwei Tage brauchen wir, bis wir auf einem Vorsprung der Westflanke auf einer Höhe von ca. 3.600 m ein kleines Hochlager eingerichtet haben. Von dort brechen wir am Morgen des 3. September zeitig auf. Mehr als 1.100 Höhenmeter trennen uns vom Gipfel. Der Aufstieg über steiles Lavageröll bei teils tiefem Neuschnee ist sehr anstrengend. Wir brauchen wieder viel länger als angenommen. Gegen 14 Uhr erreichen wir endlich ein Plateau am Kraterrand. Alles raucht und zischt um uns herum. Unser Vulkanologe, den ich inzwischen Professor nenne, meint, das sei das Ziel. Er sieht es nicht gern, dass wir, Martin, Victor, Ursula und ich dem höchsten Punkt entgegenklettern. Die Luft stinkt widerlich nach Schwefel, der Boden ist teils weich und die Felsen sind nicht nur sehr heiß, sondern auch noch extrem brüchig. Man glaubt sich am Tor zur Hölle. Unmittelbar neben uns bricht der sicherlich 1.000 m tiefe Krater fast senkrecht ab. Wir sind glücklich über den Erfolg, fotografieren viel, sind aber dann auch froh, dass wir die gruselige Stätte wieder verlassen können.

Wir steigen seilfrei ab. Martin und Ursula gehen vor mir, ich in ihrer Spur. Nach etwa 200 Höhenmeter breche ich urplötzlich ein. Ich kann mich am Rand kurz halten, doch dann bricht die ca. 20 cm dicke Eisdecke nochmals. Ein lauter Schrei und weg bin ich. Meine Kameraden sehen gerade noch meinen Kopf verschwinden. Ich stürze etwa 3 m. Der Rucksack dreht mich um, ich stürze kopfüber und rutsche noch einige Meter schräg abwärts; den Kopf nach unten, die Füße nach oben. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich mich bewege. Ich bleibe regungslos liegen. Martin seilt sich ab und befreit mich aus meiner misslichen Lage. Jetzt erst sehe ich, dass ich nicht etwa in eine Gletscherspalte gefallen bin. Es ist eine ca. 2 m breite Felsrinne, irgendwann ausgeschmolzen von glühendem Magma und verdeckt durch eine Schnee- und Eisschicht, die nur das Gewicht von zweien ausgehalten hat, nicht mehr aber meine 70 kg. Ich prüfe vorsichtig meinen Bewegungsapparat. Wie durch ein Wunder habe ich keinerlei Blessuren. Zwischen meinem Kopf und dem Fels war anscheinend mein Rucksack. Glück gehabt, aber trotzdem reichlich geschockt.

Zurück zum ursprünglichen Ausgangspunkt wählen wir, wegen der schlechten Erfahrungen im Aufstieg, eine andere Route. Zwei Tage soll es dauern. Bei der Planung schwafelt unser Professor wieder von täglichen Gehzeiten zwischen 4 und 5 Stunden. Gut, dass wir ihm nichts mehr glauben. Auch der Rückweg ist wieder sehr anstrengend. In teilweise schwierigem Gelände sind wir am ersten Tag fast 10 Stunden und am zweiten Tag noch etwas länger unterwegs.

Wieder in Klyuchi, werden wir im Haus unseres Gastgebers als Belohnung für die Schinderei in traditioneller russischer Gastfreundschaft hervorragend bewirtet. Alles was Küche und Keller bieten können, gibt es im Überfluss. Ein toller Abschluss eines unvergesslichen Abenteuers an einem außergewöhnlichen Berg.

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