Lhotse 8.516 m

 

Nach dem Erfolg am Manaslu (1973) haben meine Frau Hannelore und ich in den drei Folgejahren jeweils einen 7.000er bestiegen. Im Jahr 1976 bekamen wir schließlich die schon vor Jahren beantragte Genehmigung zur Besteigung des Lhotse, der unmittelbar neben dem Mt. Everest liegt. Er ist der vierthöchste Berg der Erde und gilt als sehr schwieriger 8.000er.

Der Lhotse wurde das erste Mal im Jahr 1956 durch zwei Teilnehmer einer Schweizer Expedition bestiegen. In den folgenden 21 Jahren ist es keiner Expedition mehr gelungen, den Gipfel zu erreichen.

Das Interesse an dieser Expedition war in Bergsteigerkreisen naturgemäß groß, so dass unser Team größer geworden ist, als bei unseren anderen Expeditionen. Dies wiederum hatte Auswirkungen auf die Menge der zu transportierenden Ausrüstung und Verpflegung. Damals musste - anders als heute - noch alles was von uns und den Sherpas während der gesamten Expedition gebraucht wurde, hierzulande beschafft und nach Kathmandu befördert werden, weil es dort nichts gab, was für unsere Zwecke geeignet gewesen wäre.

Die notorische Geldknappheit ließ mich auf den abenteuerlichen Gedanken kommen, das Gepäck auf dem Landweg nach Nepal zu transportieren. Diesen Gedanken fand Hannelore, die für jedes Abenteuer zu haben war, faszinierend, denn die Lösung dieser Aufgabe konnte nur ihr zufallen, da der Rest der Mannschaft arbeiten musste.

Wieder hatte Hannelore in akribischer Arbeit die Beschaffung und Verpackung des gesamten Materials übernommen. Ihr Geschick und ihr Erfolg bei dieser Sisyphosarbeit war einmalig.

Auf meine Bitte hin hatten sich die Ulmer Magirus-Werke bereit erklärt, einen LWK zur Verfügung zu stellen und diesen mit hohem Aufwand für die extreme Aufgabe zu präparieren. In unserem Ulmer Bekanntenkreis gab es zwei abenteuerlustige Männer, die bereit waren, das Gefährt zu steuern und Hannelore auf der mehrere 1000 Kilometer langen Fahrt zu begleiten. Die Route hätte über den Balkan geführt, dann hätten die Türkei, der Iran, Afghanistan und Pakistan durchquert werden müssen, bis schließlich über indisches Territorium das Zielland Nepal erreicht worden wäre. Die überaus schwierigen Zollformalitäten waren erledigt, der LKW versiegelt und dann kam die niederschmetternde Nachricht: In der Osttürkei sei ein Kurdenaufstand ausgebrochen, der die Durchreise unmöglich mache.

Meine Hilferufe werden erhört. Wieder findet der Mitarbeiter der Firma Magirus eine Lösung. Auf seine Bitte erklärt sich eine Spedition bereit, für den Transport als Sponsorleistung zu sorgen. Unser LKW soll auf dem Seeweg mit der Begleitmannschaft nach Bombay gebracht werden, um von dort auf dem Landweg weiter nach Kathmandu zu fahren.

Jetzt wird's erst richtig stressig. Immer wieder wird ein Frachter gefunden, der dann ebenso wie seine Vorgänger, den Transport doch nicht durchführt. Die Zeit wird nicht nur knapp, sondern sehr knapp.

Anfang Dezember kommt dann die erlösende Nachricht, dass ein bulgarischer Frachter unseren LKW in Hamburg übernehmen werde. Das Begleitteam fährt den LKW zum Hafen. Nach vielen Schwierigkeiten und bürokratischen Hürden erfolgt schließlich die Verladung. Und dann kommt der Hammer: Die beiden Fahrer dürfen an Bord. Der Kapitän weigert sich, Hannelore mitzunehmen, da Frauen auf Schiffen Unglück brächten. Das Schiff läuft schließlich mit dem LKW und den beiden Fahrern aus. Desillusioniert und tieftraurig kommt Hannelore wieder nach Ulm.

Trotzdem freue ich mich, jetzt wenigstens die Transportfrage los zu sein. Aber - auch das ist Illusion. Denn nach einigen Tagen ruft uns einer der Fahrer an, der Kapitän des Frachters habe erklärt, die Ankunft in Bombay würde sich wegen einer notwendigen Änderung der Reiseroute erheblich verzögern. Da wir dieses Risiko nicht mehr eingehen können, lasse ich kurz entschlossen den LKW abladen.

Jetzt bleibt nur noch die Luftfracht. Wieder hilft uns Magirus. Hannelore fährt mit der Bahn nach Rotterdam und von dort mit dem LKW und ihren beiden Begleitern nach Maastricht, wo unser Gepäck in ein Frachtflugzeug verladen wird.

Auch der Lufttransport verläuft nur bis Neu-Delhi planmäßig. Die für den Weiterflug nach Kathmandu vorgesehene Maschine erhält keine Landeerlaubnis in Nepal. Deshalb fliegen Hannelore und unsere zwei Ulmer Freunde nach Indien. Sie begleiten den Transport mit indischen und nepalischen LKW's, die drei Tage lang rund um die Uhr fahren, bis sie endlich Kathmandu erreichen.

Am 4. März 1977 kommt dann die Mannschaft nach Kathmandu. Dazu noch eine ungewöhnlichte Begebenheit: Da wir nach dem Abtransport des Gepäcks noch vieles finden, was brauchbar oder nötig sein könnte, bringen wir die Kleinigkeit von 1,2 Tonnen Übergepäck mit. Der deutsche Repräsentant von Air India hat es möglich gemacht. Und das auch noch ohne Zusatzkosten.

Für den Anmarsch lassen wir uns Zeit. Wir besteigen einige 5.000er, die am Weg liegen. Gut akklimatisiert erreichen wir schließlich das Basislager.

Der Khumbueisfall, der zerrissendste und gefährlichste Gletscher der Welt, beeindruckt uns nachhaltig. Tagtäglich stürzen riesige Eismassen in sich zusammen. Die hohe Fließgeschwindigkeit macht jede Vorhersage unmöglich. Wichtig ist nur, nicht an der falschen Stelle zu sein. Obgleich die Teilnehmer etwa 20mal im Auf- und Abstieg durch den Khumbueisfall müssen, passiert zum Glück kein nennenswerter Unfall.

Wir gehen in mehreren Gruppen, die sich ständig an der Spitze abwechseln. Diese Bewegung zwischen Spitze und Basislager fördert nicht nur die Akklimatisation. Sie stellt auch sicher, dass jede Gruppe Gelegenheit hat, sich immer wieder zu erholen.

Im sog. "Tal des Schweigens" (Western Cwm), das sich vom Khumbueisfall bis zur Lhotse-Wand erstreckt und von der Everest-SW-Wand und der Nuptse-NO-Wand seitlich begrenzt wird, errichten wir auf ca. 6.350 m ein Lager. Dies bauen wir zu einem vorgeschobenen Basislager aus, um einen etwas besser ausgestatteten Ausgangspunkt vor dem Einstieg in die Lhotse-Wand zu haben.

Da der Wintermonsun sehr schneearm war, erwartet uns in der Wand fast ausschließlich Blankeis. Das kostet viel Schweiß und Arbeit. Schließlich stellen wir auf etwa 7.350 m im Schutz eines senkrechten Eisbruchs einige Zelte auf.

Am 28. April brechen wir dann zu viert von diesem Lager auf, um weiter oben einen Stützpunkt für den Gipfelsturm zu schaffen. Obgleich sich das Wetter zusehens verschlechtert, steigen wir weiter, bis wir in ca. 7.800 m eine Felsinsel erreichen, die wir "Schildkröte" nennen. Im Schneesturm versuchen wir, in der steilen Wand für unsere beiden Zelte einen Platz zu schaffen. Das kostet stundenlange harte Arbeit, die uns in dieser großen Höhe bis an den Rand der Erschöpfung bringt. Da der Lagerplatz sehr klein ist, beginnt die Eiswand praktisch schon im Zelt. Wer sein Zelt verlassen will, muss Steigeisen anziehen und sich mit Hilfe der angebrachten Fixseile sichern.

Die Nacht ist entsetzlich. Der Schneesturm droht unsere Zelte wegzureißen - im Zelt messen wir 27° minus. Der Sturm lässt uns nicht schlafen. Die Zelte werden durch den angewehten Schnee immer enger und als der Morgen graut, haben wir gerade noch Platz zum Sitzen. Unter diesen Umständen ist an einen Gipfelversuch nicht zu denken. Unter größten Anstrengungen machen wir uns in den engen Zelten fertig zum Abstieg. Das Wetter ist unverändert schlecht - ein typischer Wettersturz. Wir steigen ab und werden dadurch zur letzten Gruppe.

Während der folgenden Schlechtwettertage bleiben wir im Basislager.

Trotz des schlechten Wetters steigen Hans von Känel, Hermann Warth und der Sherpa Urkien am 6. Mai auf. Als am nächsten Tag das Wetter besser ist, gehen sie weiter ins letzte Lager. Eine andere Gruppe rückt nach. Da das Wetter am 8. Mai gut bleibt, setzt die Spitzengruppe am frühen Morgen den Aufstieg fort. Wir sehen unsere Kameraden im Eiscouloir, das zum Gipfel führt, verschwinden. Alle Blicke hängen an der Wand. Wir wünschen unseren Kameraden und uns den Erfolg an diesem ebenso hohen wie schwierigen Berg.

Als sie am Nachmittag im Abstieg wieder aus dem Couloir auftauchen, weiß außer ihnen niemand, ob sie den Gipfel erreicht haben oder nicht. Wir müssen warten, bis sie die Zelte erreicht haben und uns die frohe Kunde per Funk mitteilen. Der Jubel ist groß. Unserer Expedition ist nach 21 Jahren die zweite Besteigung des Lhotse gelungen.

Da das Wetter relativ beständig erscheint, geht an den beiden folgenden Tagen je eine weitere Gruppe zum Gipfel. Entgegen der getroffenen Absprache gehen die einzelnen Gruppen seilfrei. Also volles Risiko, was sich bitter rächen sollte.

Zur dritten Gruppe gehört u.a. Max Lutz, ein 27 Jahre alter Medizinstudent, der seine bergsteigerischen Qualitäten während der Expedition oft unter Beweis gestellt hat. Wir, die noch in Wartestellung waren, sind gespannt auf den Augenblick bis der erste der dritten Gruppe aus dem Eiscouloir auftaucht. Am späten Nachmittag ist es dann so weit. Nach Erreichen des Zeltes funkt einer der Kameraden, dass ebenfalls alle den Gipfel erreicht hätten, nur Max fehle noch, aber er werde bald kommen. Als es doch länger dauert, suchen wir immer wieder mit dem Fernglas die Wand nach Max ab, doch vergebens.

Mit fortschreitender Abenddämmerung wachsen unsere Sorgen um Max. Unsere ständigen Anfragen per Funk haben immer wieder das gleiche deprimierende Ergebnis - Max ist noch nicht da. Eine Sherpamannschaft bricht noch während der Nacht auf, um bei einer etwaigen Rettungsaktion mithelfen zu können. Bereits um 8 Uhr kommt ein Funkspruch, dass die aufsteigenden Sherpas Blutspuren in der Lhotse-Wand gesehen hätten.

Daraufhin steigen Hans von Känel und ich sofort mit einigen Sherpas auf zum Wandfuß. Wir finden den Vermissten und müssen feststellen, dass unsere schlimmsten Befürchtungen eingetroffen sind. Er ist über die etwa 2.000 m hohe Eiswand abgestürzt und hat den Sturz nicht überlebt. Max ist tot. Alle sind wir zutiefst betroffen und erschüttert. Wir bergen den Toten und bringen ihn durch den Khumbueisfall bis ins Basislager. Einige Tage später bestatten wir ihn etwa drei Stunden unterhalb des Basislagers.

Selbstverständlich habe ich die Expedition sofort nach diesem tragischen Unfall abgebrochen. An eine weitere Besteigung dieses großartigen Gipfels war nicht mehr zu denken. Der große Erfolg unserer Expedition, bei der übrigens Michel Dacher als erster Mensch einen über 8.500 m hohen Berg ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hat, bleibt für immer überschattet von der Trauer um unseren Freund Max Lutz.

 

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