Pik Lenin 7.134 m

 
Der Pik Lenin ist einer der vier 7.000er, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion liegen. Heute gehört er zur Republik Kirgistan. Er ist der höchste Berg des Transalai-Gebirges, das einen Teil der Grenze zu Tadschikistan bildet.

Jahrzehntelang war das Gebiet für Fremde absolut gesperrt. Eine Einreise war nur mit einer speziellen Genehmigung möglich, die aber selten und grundsätzlich nur "höchst zuverlässigen" Staatsbürgern von Ostblockländern erteilt wurde.

Trotz dieser massiven Restriktionen hat die Föderation des Alpinismus der UdSSR erstmals auch westliche Bergsteigervereine zu einer sogenannten "Alpiniade" eingeladen. Ort der Veranstaltung: Das Gebirgslager "Pamir" im Atschik-Tasch-Tal in der Kirgisischen SSR.

Den Teilnehmern war die Besteigung verschiedener Berge gestattet, wozu als höchster der Pik Lenin gehörte. Marcus Schmuck hat namens der Sektion Salzburg eine Gruppe interessierter Bergsteiger eingeladen, an der Alpiniade teilzunehmen. Hannelore und ich gehörten u.a. dazu.

Unsere Informationen über den Verlauf der Anreise waren äußerst spärlich. Da die Fahrt in der Zeit des kalten Krieges den Charakter der Erst- und Einmaligkeit hatte, war sie für uns ein echtes Abenteuer.

Am 10. Juli 1974 fliegen wir zunächst mit einer Aeroflot-Maschine von Wien nach Moskau. Gleich nach der Ankunft Zollkontrolle. Nachdem uns eindrucksvoll vorgeführt worden ist, an welch unmöglichen Stellen nach Rubeln, deren Einfuhr strengstens verboten war, gesucht werden kann, sind wir heilfroh, der Versuchung widerstanden zu haben, billige Rubel mitzubringen. Später erweist sich das auch noch als klug, weil es für Ausländer ohnehin nur für Devisen etwas zu kaufen gibt.

Am Abend des 11. Juli fahren wir mit einem Bus zum innerrussischen Flugplatz. Der für 23 Uhr vorgesehene Abflug nach Osch (Kirgisische SSR) erfolgt erst am nächsten Morgen um 3.30 Uhr. Da der Flug nun nicht mehr ausschließlich im Schutz der Dunkelheit erfolgt, wird uns das absolute Fotografierverbot nochmals nachdrücklich eingeschärft.

Wir besteigen eine 4-motorige Propellermaschine, die auf uns keinen vertrauenserweckenden Eindruck macht. Während des 6-stündigen Flugs vibriert in und an diesem Fluggerät alles. An Schlaf ist nicht zu denken. Hundemüde und verknautscht kommen wir in Osch, das südöstlich des Aralsees liegt, an. Wir werden gebeten, schnell in den Speiseraum zu gehen, dort schnell zu essen, weil es ganz schnell weitergehen soll. Einigen Kameraden werden vorher noch die Kameras weggenommen, weil sie verbotenerweise fotografiert hatten.

Beim Essen teilt man uns mit, dass es nicht, wie vorgesehen, per Flugzeug weitergeht, sondern mit Bussen. Angeblich sei das Wetter für kleinere Flugzeuge zu schlecht.

Vor der Abfahrt wird uns abermals eingetrichtert, dass Fotografieren bis zum Lager absolut verboten ist. Wir sind auf drei Busse verteilt. Voran fährt ein Polizeiauto mit Blaulicht. Zehn Stunden dauert die Fahrt. Sie führt über mehrere Pässe. In Sary Tasch ist die Busfahrt zu Ende.

Wir sollen auf LKWs umsteigen. Inzwischen ist es nicht nur stockdunkel, sondern auch noch hundekalt und stürmisch geworden. Endlich - die LKWs kommen. Bis zum Lager sollen noch 40 km sein. Die ersten Kilometer ist die Piste noch gut, aber dann als es weglos steil bergauf und bergab geht, erinnert die Fahrt an Achterbahn. Zwei Stunden dauert das, bis wir unser Ziel (ca. 3.600 m) erreichen.

Keiner von uns hätte es für möglich gehalten, aber das Camp ist dank laufender Generatoren hell erleuchtet, obgleich Mitternacht längst vorbei ist. Eine weitere angenehme Überraschung steht uns noch bevor: Freundliche, adrette, rundliche Russinnen servieren uns mitten in der Nacht ein komplettes warmes Essen.

Gleich darauf die schlechte Nachricht: Unser Gepäck und damit unsere Schlafsäcke fehlen noch. Aber die Russen, nicht umsonst gelten sie als Meister der Improvisation, lösen das Problem umwerfend einfach. Einer, der zum Lagerteam gehört, holt sein Akkordeon und verzaubert uns mit virtuosem Spiel russischer Volksweisen bei gleißendem Mondlicht inmitten der kirgisischen Steppe. Und dann kommt auch noch das Gepäck.

Die folgenden Tage nutzen wir, um uns umzusehen und bis zum Leningletscher zu wandern. Das Pamir-Lager liegt auf einer über und über mit Edelweiß bedeckten Wiese nahe dem Fluß Atschik-Tasch. Unsere Zelte sind hufeisenförmig um die Fahnenmasten aufgestellt.

Inzwischen sind alle 172 Teilnehmer der "Alpiniade" eingetroffen. Am 16. Juli ist die offizielle Eröffnungsfeier. Ein Kirgise in Landestracht und ein Russe, natürlich ein "verdienter Meister des Sports", ziehen die Fahnen der Kirgisischen SSR und der UdSSR hoch. Die Flaggen der 10 teilnehmenden Nationen sind bereits gehisst.

Reden werden gehalten, die zu unserer Überraschung so gut wie nichts Politisches enthalten. Vom völkerverbindenden Sport wird gesprochen und von der Kameradschaft, die allen Teilnehmern die Besteigung des Pik Lenin ermöglichen soll. Das Pamir-Lager sollen wir in bester Erinnerung behalten.

In den folgenden Tagen ist das Wetter nicht so gut, wie wir es uns wünschen. Trotzdem brechen wir mit schweren Rucksäcken auf. In etwa 5.000 m stellen wir unsere Zelte auf und übernachten erstmals in einem Hochlager. Tags darauf besteigen wir als Eingehtour den Pik Rasdelnaya (6.148 m). Nach etwa 5 Stunden erreichen wir den Hauptgipfel. Wir sind mit uns und unserer Kondition vollauf zufrieden.

Einige Tage sind wir nun schon wieder im Lager. Das Wetter ist nicht gut. Eine erschütternde Nachricht kursiert: In der uns abgewandten Ostwand des Pik Lenin sind fünf Esten in eine Lawine gekommen. Drei von ihnen sind tot. Für die beiden Überlebenden komme vermutlich jede Hilfe zu spät.

In der vergangenen Nacht hat es ununterbrochen geschneit. Eines der beiden Messezelte bricht unter der Schneelast zusammen. Ein paar Amerikaner gehen mit gesenkten Köpfen zu den Fahnen. Sie setzen die amerikanische Fahne auf halbmast. Einer ihrer Kameraden, Jon Gary Ullin, ist in der Nordwand des Pik des XIX. Parteitages ums Leben gekommen. Er hat zusammen mit drei weiteren Amerikanern versucht, diese Wand erstmals zu durchsteigen. Eine Lawine war das Ende.

Es schneit, lautlos, unaufhörlich, trostlos. Wir haben keine Nachricht von all den Teams, die an den Flanken des Pik Lenin biwakieren müssen.

Erst nach einigen Tagen bessert sich das Wetter so weit, dass wir wieder unser Ziel angehen können. Über Lager I steigen wir weiter zum Lager II. Dann fängt es wieder an zu schneien. Am 30. Juli gehen wir trotzdem weiter zum Lager III, das am Beginn des Nordwestgrates des Pik Lenin liegt. Marcus will um 1 Uhr morgens nach dem Wetter sehen. Wenn es nicht zu schlecht ist, will er um 2 Uhr losgehen.

Der Wetterbericht ist überflüssig: Es stürmt so, dass man sich nur schreiend verständigen kann. Aber es schneit nicht. Wir gehen los. Nach dem ersten Steilaufschwung ziehe ich meine Steigeisen an. Ich warte auf Hannelore und rate ihr, das gleiche zu tun. Langsam wird es hell, die Sonne geht auf. Die Gipfel des Pamir und des Hindukusch liegen vor uns, bedeckt vom ewigen Eis und dadurch noch leuchtender, in einem unwirklich samtblauen Licht. Obwohl meine Finger noch klamm sind, fotografiere ich begeistert. Wir gehen gemeinsam weiter. Der sogenannte zweite Grataufschwung liegt vor uns und scheint kein Ende zu nehmen. Als wir ihn hinter uns haben, erreichen wir die große Schneemulde vor dem Gipfelaufschwung. Der Weg zum Gipfel ist von hier aus noch weit, viel weiter als man meint. Mehr als eine Stunde war noch zu gehen, obwohl man glaubte, in wenigen Minuten am Gipfel zu sein. Jetzt bin ich schon einige Zeit am Gipfel, habe alle Büsten, Köpfe, Kisten und Tafeln fotografiert, und warte. Gleich darauf sehe ich Hannelore, die überglücklich beide Arme in die Luft wirft. An diesem 31. Juli steht mit mir Hannelore auf ihrem ersten 7.000er. Sie weint vor Freude.

Im Abstieg treffen wir auf einen Schweizer, der uns um Trinkbares bittet. Wir können ihm nichts geben; der Tee in unseren Trinkflaschen ist gefroren. Der Wind, der um die Mittagszeit nachgelassen hat, nimmt wieder zu. Der Weg zurück zu den Zelten dauert einige Stunden. Dankbar trinken wir den Tee, mit dem wir von unseren Kameraden schon erwartet werden.

An den beiden nächsten Tagen steigen wir ab zum Lager I und dann ins Basislager.

Die folgenden Tage vergehen rasch. Wir machen einen Ausflug zu den in der Nähe des Lagers stehenden Jurten. Wir sehen das erste Mal, wie eine Stute gemolken wird und versuchen das kirgisische Nationalgetränk, Kumyss (= vergorene Stutenmilch). Es schmeckt bei weitem nicht so fürchterlich, wie der Name vermuten lässt.

Wenn auch nie mehr die unbeschwerte Fröhlichkeit der ersten Tage aufkam, so sind wir doch mit dem Tod der Russen und des Amerikaners irgendwie fertiggeworden. Heute früh lag das ganze Lager unter einer zusammenhängenden Schneedecke. Wir sorgen uns um Kameraden, die noch am Berg in den oberen Lagern sind. Hoffentlich passiert nichts mehr.

Ein paar Schweizer gehen langsam zu den Fahnen in der Mitte des Lagerplatzes. Entsetzt sehe ich, wie sie ihre Flagge einholen. Wer? Eva ist tot - sie ist an Erschöpfung gestorben! Sie war Mitglied einer dreiköpfigen Frauenexpedition. "Die Männer glauben immer, schwierige Touren und hohe Berge können nur von ihnen gemacht werden. Wir werden beweisen, dass wir das genauso gut können!" sagte Eva vor einigen Tagen noch zu Hannelore.

Heute ist der 7. August. Die nächste Schreckensnachricht kommt. Von den acht Russinnen, die den Pik Lenin traversieren wollten, ist eine an Erschöpfung gestorben. Zwei sind schwer krank, so wird über Funk berichtet. Die Zelte sind zum Teil zerstört, Ausrüstungsgegenstände hat der Sturm weggerissen, die Mädchen haben kein Benzin mehr und können deshalb nichts mehr kochen. Die russische Bergsteigerlegende Abalakov versucht, den Mädchen Mut zu machen. Er sagt ihnen, eine starke sibirische Mannschaft sei auf dem Weg, um zu helfen.

Das Lager der Russinnen steht unterhalb des Lenin-Gipfels in ca. 6.900 m Höhe. Eine Rettungsaktion vom Hauptlager ist aussichtslos. Es würden Tage vergehen, bis man zu den Mädchen käme. Sind die Sibirier wirklich in ihrer Nähe?

Mittag: Die beiden kranken Russinnen sind gestorben. Hilflos, ohnmächtig müssen wir miterleben, wie die Katastrophe ihren Höhepunkt erreicht. Abend: "Wir geben auf, lebt wohl, uns fehlt die Kraft, eine Schneehöhle zu bauen, wir müssen sterben. Danke für alles .... wir legen uns jetzt hin .... wir können nicht mehr den Knopf des Funkgerätes drücken ... All das hören wir in Russisch, ohne es zu verstehen. Doch schon vor der Übersetzung zeigt das Mienenspiel der funkenden Russen die Tragik des Geschehens.

Die sibirische Mannschaft, die den Russinnen zu Hilfe kommen sollte, musste umkehren. Zu viel Schnee war gefallen.

Am nächsten Tag strahlender Sonnenschein, der die fürchterlichen Ereignisse des vergangenen Tages unglaubwürdig erscheinen lässt. Eine amerikanische Gruppe unter Führung von Allen Steck meldet sich per Funk vom Aufstieg über die Lipkin-Route. Diese Amerikaner kommen zuerst zu den toten Russinnen. Nur sieben Leichen und eine Spur, die sich in der Nordwand des Pik Lenin verliert, finden sie. Ihr Bericht ist erschütternd.

Nach einigen Tagen Sonnenschein lockert sich die gedrückte Stimmung und die Vorbereitungen für die Heimreise beginnen. Nach einer langen und sehr strapaziösen Reise kommen wir wieder gesund nach Hause.

Während dieser Alpiniade mussten 13 junge Menschen am Berg ihr Leben lassen. Ein hoher, viel zu hoher Preis für den Erfolg an einem hohen Berg. Die allgegenwärtige Frage: Lohnt sich das? Sie ist auch dieses Mal mit "Nein" zu beantworten. Und trotzdem - immer wieder werden Menschen in der Hoffnung aufbrechen, gesund zurückzukehren von lohnenden Gipfeln. Einfach deshalb, weil es Berge gibt.


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