Zweite Expedition
vom 3. Januar bis 23. Februar 1995

Vierte Besteigung des Mt. Paget auf neuer Route


 
Zwei Monate nach meiner Rückkehr von der ersten Südgeorgien-Expedition bekam ich im April 1991 von Crag Jones, der unseren Leidensweg am Mt. Paget mitgegangen war, einen Brief. Er und Jan Mills, damals Bergführer der britischen Garnison, haben nach unserer Abreise nochmals versucht, den Mt. Paget über die Franzosenroute zu besteigen. Und tatsächlich ist diesen Teufelskerlen bei einem sechstägigen Versuch am 18. Februar die dritte Besteigung gelungen. Eine Nachricht, die mich in meiner latenten Absicht bestärkt hat, eine weitere Expedition nach Südgeorgien zu organisieren.

In der Zwischenzeit habe ich den österreichischen Biologen Dr. Robert Schabetsberger kennen gelernt. Er war mit mir 1992 auf dem höchsten Berg Madagaskars. Von meinem Plan, den Mt. Paget abermals zu versuchen, war er sehr angetan und wollte mitmachen. Da ich relativ sicher war, dass meine Freunde Martin Anwander und Hans Engl auch nicht fehlen wollten, stand die Bergsteiger-Crew fest.

Aber die Hauptsache, ein Skipper, der bereit war, seine Yacht zu einem akzeptablen Preis zu verchartern, fehlte noch. Bei meiner intensiven Suche stieß ich auf den US-Amerikaner Skip Novak, Eigner der Yacht Pelagic. Er war nicht nur ein renommierter Segler, sondern auch ein passionierter Bergsteiger und wollte ebenfalls auf den Mt. Paget. Deshalb war er bereit, mit mir einen Chartervertrag zu moderaten Konditionen abzuschließen.

Damit waren die entscheidenden Weichen gestellt. Am 6. Januar 1995 verlassen wir mit Skip Novak und seinen Helfern an Bord der Pelagic den Hafen von Ushuaia mit dem üblichen Ziel Puerto Williams. Nach dem Verlassen des Beagle-Kanals haben wir tolle Windverhältnisse. In 24 Stunden legen wir kaum glaubliche 185 Seemeilen (342 km) zurück. Aber wie nicht anders zu erwarten, bleibt es nicht so. Die Bedingungen sind die gleichen wie bei unserer ersten Überfahrt: haushohe Wellen, Wasser in allen Farbschattierungen, Flauten und nie aufkommende Langeweile. Wir passieren bei Tageslicht einen riesigen Eisberg und die als Vorboten von Südgeorgien bekannten Shag Rocks, eine Gruppe steiler Felsen mitten im Ozean.

Nach neun Tagen erreichen wir Südgeorgien und gehen erstmals in der Cook-Bay an der aufgelassenen Walfangstation Prince Olav Harbour vor Anker. Auf unserem Weiterweg nach Grytviken laufen wir Albatross Island an, gehen an Land und machen phantastische Aufnahmen vom Balztanz der Albatrosse. Kaum vorstellbar, aber sie haben keinerlei Scheu vor Menschen. Nur Skuas stürzen sich hin und wieder wild kreischend auf uns, wenn wir versehentlich ihren Nestern zu nahe kommen.

Bei unserer Ankunft in Grytviken kommt der Hafenmeister in Begleitung von Mark Stratford, dem Bergführer der britischen Garnison, der zu den Royal Marines gehört, an Bord. Und jetzt die Überraschung: Mark Stratford bittet uns, wie vor vier Jahren Crag Jones, ob er nicht mitgehen könne. Auch dieses Mal willigen wir ein; wer die Ausbildung der Royal Marines überstanden hat, sollte auch am Mt. Paget überleben. Von Mark erfahren wir auch, dass seit 1991 niemand mehr am Gipfel war.

Am 20. Januar gehen wir beim Abbruch des Nordenskjöld-Gletschers an Land und richten unser Basislager ein. Der Beginn gleicht dem von unserer Expedition 1991. Nach zwei Tagen stellen wir am selben Platz die Zelte unseres ersten Lagers auf. Kaum sind wir fertig, beginnt es zu regnen. Dann gießt und gießt es in Strömen, 48 Stunden lang. Unsere Stimmung fällt auf den Nullpunkt. Die Wassertropfen am Zeltdach werden immer mehr. Mit schlimmen Gedanken zählen wir sie. Wie lange hält es noch dicht? Doch nach über zwei Tagen und Nächten hört es auf. Wir steigen über den vor uns liegenden Eisabbruch unter ständiger Eisschlag- und Lawinengefahr auf bis zu einer Felsinsel. Vor vier Jahren sind wir hier nach Westen abgebogen, um auf dem oberen Paget-Gletscher bis zum Fuß des Nordgrats zu gehen. Wegen der gemachten dramatischen Erfahrungen, steht für Hans, Martin und mich fest, dass wir nicht nochmals in diese Mausefalle gehen. Wir wollen nach einer anderen Route suchen. Wir glauben, dass es nördlich von uns über einen weiteren Eisbruch die Möglichkeit zum Durchkommen geben müsste. Trotz der Sichtbehinderung durch Nebel und Wolken scheint uns das jetzt auch vor Ort realistisch. Mit dieser positiven Einschätzung steigen wir ab zu unseren Zelten.

Tags darauf wieder Aufstieg zur Felsinsel. Wir überqueren den oberen Paget-Gletscher in Nord-Südrichtung bis an den Fuß des nächsten Eisabbruchs. Zwei von uns gehen ohne Gepäck auf Erkundung. Nach einiger Zeit kommen sie zurück. Sie haben keine Durchstiegsmöglichkeit gefunden. An anderer Stelle wird ein neuer Versuch gestartet - wieder ohne Erfolg. Ein dritter Versuch bringt nach etwa zwei Stunden die Botschaft, dass es eine Möglichkeit gibt, aber mit einer sehr schwierigen Stelle. Das Wetter ist, was selten genug vorkommt, hervorragend. Unsere gemeinsame Sorge, es könnte wieder umschlagen, ist Anlass zu einer lebhaften Diskussion. Besonders Robert setzt sich lautstark und vehement dafür ein, ohne Zelt mit leichtem Rucksack die Nacht über durchzugehen und ein oder mehrere spartanische Biwaks in Kauf zu nehmen. Ein höchst abenteuerlicher Vorschlag, wenn man bedenkt, dass wir das vor uns liegende Gelände, das noch nie betreten worden ist, nicht kennen und die Höhendifferenz stattliche 2.200 m beträgt. Zu guter Letzt setzt sich die Vernunft durch, am Fuß des Eisbruchs zu zelten und die auf der Felsinsel deponierten Sachen zu holen.

Am nächsten Morgen brechen wir bei immer noch strahlendem Wetter auf. Über die am Vortrag erkundete Route überwinden wir den Eisbruch und steigen auf bis zu dem Becken, das wir beim Geländestudium als Platz für unser letztes Lager favorisiert haben. Wir legen ein Depot an, gehen wieder zurück und holen den gesamten Rest.

Nach einer kurzen Nacht stehen wir schon vor 1 Uhr auf und machen uns fertig. Über einen relativ steilen Eishang geht es auf einen fast ebenen Schneegrat. Jetzt muss entschieden werden, wo wir weiter gehen. Entweder wir queren hinüber zum oberen Teil des bei der zweiten und dritten Besteigung begangenen Nordgrats oder bleiben weiter auf neuer und direkter Route durch die gesamte Nordostwand. Da das Wetter gut ist und auch die Eisverhältnisse nach unserer Einschätzung nicht schlecht sind, fällt die Entscheidung schnell und einstimmig. Wir steigen auf direkter Route durch die Nordostwand. In der Wand sind die Verhältnisse wechselnd, aber nie ganz schlecht. Wir kommen schnell voran. Der Gipfelaufschwung ist steil und das Eis blank . Unser Tempo lässt nach. Aber das Wetter ist einmalig, kein Wind und keine Wolke am Himmel. Kurz nach 10 Uhr erreichen wir am 26. Januar den höchsten Punkt. Mir fallen riesige Steine vom Herzen. Das Wetter hat gehalten und die düsteren Prognosen sind nicht eingetroffen. Wir sind alle sechs am Gipfel. Die Sicht ist überwältigend. Die ganze Insel in ihrer ungewöhnlichen Schönheit liegt zu unseren Füßen. Am Horizont sieht man sogar die Krümmung der Erdoberfläche. Nur im Pulli rasten wir eine Stunde und genießen unser Glück.

Da es sehr warm geworden ist und Unmassen von Schnee liegen, wollen wir nicht über die Aufstiegswand, sondern über den Nordgrat absteigen. Zunächst sind wir zügig unterwegs. Aber je weiter wird nach unten kommen, um so akuter wird die Lawinengefahr. Der Schnee ist weich und tief. Wir alle wissen, dass man bei solchen Verhältnissen eigentlich nicht hier sein sollte, aber zu ändern ist nichts. Nach manchem Stoßgebet erreichen wir die Querung. Aber jetzt wird es mehr als kriminell. Vor uns donnert eine Lawine zu Tal, hinter uns an den Wänden Eisschlag und Lawinen ohne Zahl. Nackte Angst macht sich breit. So schnell wir können, wollen wir die fatale Querung hinter uns bringen. Nach etlichen Spaltenstürzen, die dank Sicherung glimpflich verlaufen, erreichen wir kurz vor 19 Uhr den Schneegrat und das Lager. Ein sehr langer, aber auch ein ganz besonders glücklicher Tag geht zu Ende.

Der weitere Abstieg am folgenden Tag verläuft planmäßig, wenn wir auch im unteren Eisbruch nochmals zittern müssen. Auf sicherlich 200 m Breite ist eine riesige Eislawine niedergegangen, die von uns zu queren ist. Manch angstvoller Blick geht nach oben, ob nicht etwas nachkommt. Am späten Nachmittag sind wir zurück am Ausgangspunkt. Skip funkt die Pelagic an, die uns bald holt. Wieder an Bord, genießen und freuen wir uns über den Erfolg am Mt. Paget.

Der nächste Tag wird zum Putz- und Waschtag. Wir trocknen und reinigen unsere strapazierten Sachen. Die Briten laden uns für den Abend zum Bier ein. Es wird richtig nett und wir fühlen uns unter den jungen Kriegern ausgesprochen wohl. Um Mitternacht stolpern wir, nicht mehr ganz nüchtern, den steinigen Weg in stockfinsterer Nacht zurück zum Boot.

Jetzt haben wir noch mehr als eine Woche Zeit, die Insel zu erkunden. Wir kommen in viele Buchten und zu markanten Kaps, die wir bei unserer ersten Expedition nicht besucht haben. Der irrsinnige Tierreichtum und die verschiedenen Landschaftsformen auf engstem Raum faszinieren uns immer wieder.

Doch alles hat ein Ende - am 7. Februar verlassen wir Südgeorgien in Richtung Falkland. Zunächst geht es recht langsam. Der Wind kommt aus der falschen Richtung. Wir müssen kreuzen. Doch auch das ändert sich wieder. In den nächsten sechs Tagen beherrscht die Faszination des stürmischen Meeres der südlichen Breitengrade mit seinen ständig wechselnden Wetter- und Windverhältnissen wieder das Geschehen. Wir laufen dieses Mal nicht Port Stanley an, sondern umsegeln gleich die Falkland-Inseln auf nördlicher Route, weil unser Rückflugtermin drängt. Alles verläuft planmäßig bis zum unseligen 13. Februar. Wir sind noch 167 Seemeilen nördlich der Staten-Insel und der gefürchteten LeMaire-Straße, als urplötzlich der Motor seinen Geist aufgibt. Eine fatale Situation, denn genau jetzt brauchen wir ihn wegen des ungünstigen Windes. Skip und einer seiner Leute arbeiten fieberhaft. Die Einspritzpumpe ist defekt. Wir haben eine Ersatzpumpe, aber die diffizile Montage gelingt trotz aller Bemühungen nicht. Das Boot ist im Sturm zu unruhig. Es bleibt nur eins, die Segel zu reffen und das Schiff treiben zu lassen, bis sich der Wind dreht. Zu allem Überfluss ziehen am Abend des nächsten Tages kohlschwarze Wolken auf. Ein Gewitter? Sie sind in dieser Region höchst selten. Doch dieses Mal ist es eines. Blitze zucken und der Donner grollt ohrenbetäubend. Wir treiben hilflos mit unserem Boot und seinem hohen Mast als schwimmender Blitzableiter im aufgewühlten Meer. Aber auch das geht vorbei. Eine absolute Flaute folgt. Dann kommt wieder starker Wind auf, aber leider aus der absolut verkehrten Richtung. Wir treiben nach Nordwesten, weg von unserem Ziel. Unter uns vier Nichtseeleuten macht sich Ratlosigkeit breit. Wir können uns nicht vorstellen, wie es weitergehen soll. Wir liegen in unseren Kojen und harren der Dinge, die da kommen. Zwei volle Tage sind jetzt vergangen, seit der Motor ausgefallen ist. Doch plötzlich rutsche ich in meiner Koje unversehens auf die andere Seite. Hat etwa der Wind gedreht? Ja es stimmt. Sofort werden die Segel gesetzt. Ohne Motorunterstützung durchfahren wir die LeMaire-Straße, die als größter Schiffsfriedhof der Welt gilt. Trotz der gefürchteten starken Strömungen sind wir am frühen Morgen des 16. Februar durch. Bravo Skip! Jetzt sind wir dem Beagle-Kanal sehr nahe und meinen, das Schlimmste sei hinter uns. - Weit gefehlt!

Nach wie vor herrscht Sturm, gegen den wir ankämpfen müssen. Hinzu kommt eine starke Gezeitenströmung gegen unsere Fahrtrichtung. Unter Deck hat man den Eindruck, wir kommen zügig vorwärts, doch es stimmt nicht. Am Abend sind wir östlich unserer ursprünglichen Position, das heißt, wir sind in die Gegenrichtung abgetrieben worden. Da der Sturm noch zunimmt, entscheidet Skip, nach Süden zu segeln, um von der gefährlichen Küste wegzukommen. Dann werden die Segel gerefft und das Ruder festgezurrt. Jetzt treiben wir in der stürmischen See, die zu kochen scheint, steuerlos wie ein Kork. In Seemannskreisen heißt das "heave to". 30 Stunden dauert diese überaus missliche Lage. Eine lange Zeit - genügend Zeit darüber nachzudenken, ob das geliebte Leben zu Ende geht. Ein zweifelhaftes Vergnügen, aber gerade solche Situationen machen echte Abenteuer aus. Auch dieses Mal dreht der Wind wieder und am 18. Februar kurz vor Mitternacht erreichen wir Puerto Williams und am nächsten Tag Ushuaia. Sicher war es oft schlimm und die Lage schien aussichtslos, trotzdem sind wir glücklich - lange waren wir unterwegs und viel haben wir erlebt. Was will man mehr?

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